Froelichs Restauration

Während Peter Kubelka aufgrund seiner Professur für das Kochen als Kunstgattung eine Eat Art praktiziert, die im Wesentlichen innerhalb der Kunsthochschule und des Kunstbetriebs verortet bleibt, entwickelt Dieter Froelich, der bei Kubelka das Kunstkochen studierte, koch–artistische Aktivitäten in der konzeptuellen Form eines mobiles Speiselokals weiter: Einem barocken Wanderkoch gleich, betreibt Froelich seit 2003 die temporäre Künstlerküche Restauration a.a.O. Diese in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit agierende interventionistische Kochpraxis stellt wieder stärker Bezüge her zu Eat Art Aktivisten wie Daniel Spoerri oder Gordon Matta-Clark und deren außerhalb des institutionellen Kunstbetriebs inszenierten Künstlerküchen. Wie bei ihnen schon, so gewinnt auch bei Froelich wieder ein avantgardistischer Impetus an konzeptueller Bedeutung, indem die Koch-Kunst im Leben verortet wird. Während Spoerri oder Matta-Clark und andere jedoch eigene Speiselokale in Betrieb nehmen, um dadurch neuartige Kunsträume zu etablieren, bei denen das Kochen und Essen tendenziell zugunsten anderer (Kommunikations– und Vemetzungs–) Zwecke in den Hintergrund treten, arbeitet Froelich mit einer Restauration a.a.O., die weder eine feststehende Lokalisation noch geregelte Öffnungszeiten hat. Ort und Zeit der Restauration werden jeweils rechtzeitig vor dem Ereignis in der Tagespresse, per Newsletter und auf der Website angegeben: daher a.a.O. – am angegebenen Ort. Wenn die ästhetische Praxis der Restauration a.a.O. das Ess–Kunstgeschehen aus dem institutionellen, musealen Kontext befreit, schließt dies nicht aus, dass sie zeitweise auch wieder in den Kunstraum einwandert und dort eine Zeitlang ihre Feuerstelle einrichtet. Entscheidend ist die Mobilität und Mobilmachung der kulinarischen Praxis. So kann mit dem französischen Philosophen Gilles Deleuze gesagt werden, Froelichs mobile Küche deterritorialisiert die Kunst des Kochens, indem sie den Transfer des Essenmachens und des Essensgenießens von der häuslichen Privatsphäre in den öffentlichen Raum zeigt und auf diese Praxis gesellschaftlich aufmerksam macht, indem sie an jedem erdenklichen Ort – einem leerstehenden Ladenlokal, einer Werkstatt, einer Galerie, einem Museum oder ähnlichen Lokalitäten – reterritoriatisiert wird.

Konzeptuell steht Froelichs Kunst-Kochkunst für eine Alltagsküche ein, die den Ästhetizismus sowohl der professionellen Kochkunst als auch einer plakativen Koch-Kunst untergräbt. Genie-Kreationen aus bizarren Kombinationen und Zutaten oder extravaganten Spezialitäten und anderen spektakulären Augenweiden einer repräsentativen Kochhochkultur wird, wie bei Beuys, die unkomplizierte Schönheit einer regionalen Küche entgegengestellt. Dementsprechend müssen die Gäste und Teilnehmer der Restauration a.a.O. auf alle »Effekte« der Erlebnisgastronomle: auf Arrangements, Potpourris, Carpacchios, Variationen von [...] und an [...], überpuderte Dessertteller, manierierte Amuse Gueules, gut gemeinte Tischdekorationen, Hintergrundmusik und spaßigem Begleitprogramm verzichten. »Die Kochkunst« so erläutert Froelich das eigene Konzept, »wird nicht in einer ›falsch verstandenen Kreativität‹ im Zubereiten oder Erfinden von Speisen gesucht. Der in der Gastronomie verbreitete Hang zur angestrengten Selbstverwirklichung und Originalität ist überflüssig«. Stattdessen übt sich Froelich lieber im Ungekünstelten einer alltagsweltlichen Kulinarik, um mit einer Möhrensuppe oder einer sauer gekochten Schweinswurst ein anderes Weltbild entstehen zu lassen als das von Elefantenrüttelsteaks oder Blumenkohlparfaits unter der Kaviarhaube mit sautiertem Rochenflügel. Trotz, oder gerade wegen, der anti-ästhetizistischen Programmatik einer Hausmannskost richtet sich seine Kunst des Kochens an Menschen, die sich auch auf ungewohnte und fremdartige Speisen einlassen wollen. Statt das Ungewohnte wie üblich durch eine Effekt erheischende Küchenexotik des Fremdländischen und Skurrilen zu erzwingen und letztlich den mittlerweile an dererlei Ungewohntes gewöhnten Geschmack der Konsumenten oberflächlich zu bedienen, wertet Froelich die Kategorie des Ungewohnten und einverleibten Fremden gastrosophisch um. Seine Küche erzeugt die ästhetische Erfahrung des Fremden durch die Wiederaneignung des entfremdeten Eigenen: Den Gästen werden kulinarische Erkundungen der Regionen und die site-specifity der jeweiligen Gegebenheiten der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und lokalen Biodiversität nahe gebracht. Mit der Philosophie, traditionelle Gerichte beziehungsweise in Vergessenheit geratene Nahrungsmittel, Zutaten und Zubereitungsweisen neu zu entdecken, will Froelich keinen altbackenen Traditionalismus auftischen. Statt die konservative Nostalgie der ›guten alten Rezepte der Großmutter‹ als vermeintlich letzten Ausweg zu beschwören, den Verfall der Kochkunst entgegenzuwirken, wird der Begriff Restauration als eine Wiederherstellung wörtlich genommen, die nicht nur die physischen Lebenskräfte wiederherstellt, sondern eben auch ein kulinarisches Grundwissen und Kochen–Können. Seine Seminare zum Kochen als Kunstgattung an der Fachhochschule Hannover (1999-2002) beschäftigen sich beispielsweise mit Grünkohl, dessen regionalen Varianten und Zubereitungsarten, oder mit Speise-Archetypen wie Nudeln, Suppe, Wurst, Gemengsel und deren spezifischen Gestaltungsprinzipien. Unter der Kategorie Gemengsel werden Falaffel, Semmelknödel, Griesklößchen und andere Kloß–, Klops– und Knödelparameter unter allgemeinen Gesichtspunkten wie Zutatenauswahl, Produktionsmethoden, Aufbau, Größe, Konsistenz, Kochzeit und chemisches Reaktionsverhalten erforscht.

Froelichs Küchenphilosophie betreibt Aufklärung im besten Sinne des Wortes: Seine Kunst vermittelt Erkenntnisse über gastrosophische Zusammenhänge und ein elementares Wissen, das den Menschen hilft, besser zu essen und kulinarisch besser zu leben. Sie leitet zu einer Lebenskunst an und setzt damit anhand der kulinarischen Praxis das ursprüngliche Anliegen des künstlerischen Avantgardismus wirklich um, indem Leben und Kunst (als Prinzip gestaltender und gestalteter Freiheit) zu einer besseren Lebenspraxis vereint werden. Froelichs Eat Art lebt eine Ethik vor, die ihre moralische Implikation, das tägliche Kochen als Lebenspraxis zu wählen statt nicht zu kochen, im Reiz der Ästhetik schmackhaft macht. Zur ethischen Vorbildlichkeit dieser Kunst des Essens gehört insgleichen die Tatsache, dass die verwendeten »Grundstoffe aus ökologischem Anbau und artgerechter Tierhaltung« kommen.

Die Besucher der seit Beginn des Jahres 2007 veranstalteten Kochkurse  der Restauration a.a.O. erfahren eine Kunst, deren ganzer Sinn darin liegt, grundlegende Kenntnisse der Speisezubereitung zu präsentieren. Damit setzen sich Froelichs Kochveranstaltungen von populären Kochkurs-Angeboten kritisch ab. »Viele dieser Kochkurse laufen nach einer ähnlichen Dramaturgie wie ihre TV–Vorbilder ab. Der Eventcharakter steht im Vordergrund und im unglücklichsten Fall sollen die Kochlehrlinge auch noch gegeneinander kochen.« Statt auch noch das Kochen unter das Leistungsprinzip zu stellen oder einzelne Gerichte vom Zuschauer als Kunstwerke bestaunen zu lassen, stellt Froelich die künstlerischen Grundprinzipien des Kochens in den Mittelpunkt seiner Kurse. Diese vermitteln ein technisches und kompositorisches Verständnis beispielsweise des Prinzips Knödel das die Teilnehmer dazu befähigt, fortan jede Art von Knödel kochen zu können statt ein spezielles Knödelrezept bloß nachzukochen. Diese Prinzipienlehre versetzt die Beteiligten in die Lage, als Produzent und eigener Küchenchef aktiv zu werden. Entgegen des ersten Anscheins operiert diese Koch-Kunst nicht mit fragwürdigen partizipatorischen Elementen, die die pädagogisch motivierten Mitmach–Aktionen der 1970er Jahre wieder beleben. Wenn die Teilnehmer und Gäste aufgefordert werden, selbst Rezepte für einfache, ihnen vertraute Speisen mitzubringen, gelingt es den Kochkursen und Kochaktionen des Restauration a.a.O. Elemente einer didaktischen Kunstvermittlung mit einer interventionistischen Kunstpraxis zu verbinden, die die Grenzen zwischen künstlerischem und außerkünstlicherem, lebenskünstlerischem Kochen nahezu vollständig aufhebt.

Indem Froelichs mobile Feldküche allerdings ausschließlich Geschirr verwendet, das aus weiß glasiertem Porzellan ist, setzt sie bewusst den White Cube Purismus konventioneller Kunstausstellungspraxis inszenatorisch ein. Diese formalästhetische Strategie der arrangierten Installation wird noch unterstützt durch die Tatsache, dass jedes Geschirrelement mit dem Schriftzug Restauration a.a.O. signiert ist und es so als einen äußeren Bestandteil eines Gesamtkunstwerks markiert. Doch anders als beispielsweise die Kochgeschirr–Kunst von Lingner und Ohno, bei der die Teller mit kunstphilosophischen Sentenzen und trivial–tiefsinnigen Fragen beschriftet sind, geht es Froelich mit seinem Geschirr-Environment nicht um plakative Denkanstöße, sondern um eine phänomenologische Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung des Inhalts: des präsentierten Essens. Darüber hinaus gewinnt mit dieser Installation bei ihm ein zentraler Aspekt einer Kunst des Essens erneut an programmatischer Bedeutung, der bei seinem Lehrer Kubelka in den Hintergrund getreten war: Der Essensgenuss wird als soziales, konviviales Happening  veranstaltet. Dies lässt eine konzeptuelle Nähe zu den Eat Art Banketten von Spoerri erkennen. Während Spoerri aber die eat–artistischen Happenings zu einer Eventgastronomie popularisiert und trivialisiert, bringen Froelichs Tafelrunden die alltagsweltliche Sozialität einer Mahlvergemeinschaftung ins Spiel. Indem das Kochen im gemeinsamen Genuss mündet, machen die Beteiligten eine fundamentale ästhetische Erfahrung der gastrosophischen Lebenskunst.


Harald Lemke: »Die Kunst des Essens«, Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks; transcript Verlag, Bielefeld 2007;
S. 90 ff..