Essen
und Denken?
Eine
Veranstaltung unter dem Motto „essen & denken“ evoziert
ein vielversprechendes Bild. Ein Gastmahl antiken Vorbildes mag einem
dabei in den Sinn kommen, oder etwas, was an die Programmatik des
bürgerlichen Salons erinnert. Auf jeden Fall wird es sich um
etwas anderes handeln, als die profane Nahrungsaufnahme, die wir tagtäglich
praktizieren (müssen).
Ein Philosoph und Dramaturg, ein Schriftsteller, ein Bildhauer werden,
moderiert von einem Journalisten, zum Thema „Baustelle? Die
Lust am Provisorischen“ denken und reden.
Von den Speisen darf Besonderes erwartet werden, da sie von einem
Plastiker bereitet sind, der Kochen als Kunstgattung versteht. Diskurs
und Erkenntnis sind also versprochen.
„Think differently – eat together“, lautet der Untertitel
der Veranstaltung. Übersehen wir den unsinnigen Anglizismus,
so scheint es auf den ersten Blick einleuchtend, daß gemeinsames
Essen unterschiedliche Meinungen, wenn nicht nivellieren, so doch
versöhnen könnte. Wir mögen zwar über dies oder
das anderer Meinung sein, aber trotzdem können wir gemeinsam
essen, sitzen doch eigentlich im gleichen Boot, beziehungsweise am
gleichen Tisch. Entscheidend ist aber, was denn auf diesen Tisch kommt.
Was ist eigentlich schwerer zu verdauen, fremde Gedanken oder ungewohnte
Nahrung?
Lust am Provisorium
Was mag lustvoll
sein, an einem vorläufigen, behelfsmäßigen, vorübergehenden
Zustand? Vielleicht das damit verbundene Gefühl von Offenheit
und möglicher Veränderung.
Im Provisorischen müssen wir uns nicht festlegen. Es herrscht
Unverbindlichkeit, Bewegung und Kreativität. Alles fließt
und ist in Bewegung. Das scheint gerade recht für eine Welt,
in der wir uns auf nichts mehr verlassen können sollen und in
der Flexibilität zur Voraussetzung des Bestehens in allen Lebensbereiche
geworden ist.
Kochen allerdings ist, wie jede gestalterische Handlung, nicht ohne
Verbindlichkeit zu denken. Dieser Umstand bedeutet aber nicht Einschränkung,
sondern ist als Freiheit zu verstehen. Es wird ein verbindliches,
wenn auch, im Hinblick auf die heutige Speisenfolge, fragmentarisches
Bild entworfen.
Im Gegensatz zum Provisorium verweist das Fragment nämlich auf
ein entweder verlorengegangenes oder noch nicht realisiertes Ganzes.
Es trägt also ein utopisches Moment in sich und beruft sich somit
auf eine Einheit und auf eine Idee. Es beinhaltet also Verbindlichkeit.
(Nach KLUGE entstammt Provisorium von frz. provisoire,
das eigentlich „Sorge tragen“ bedeuten müßte,
aber das zusätzliche Merkmal „vorläufig“ bekam.)
In diesem Sinne sind die servierten Speisen mitnichten Provisorien,
sondern Fragmente und wollte man es denkend ganz genau nehmen, sogar
Metafragmente.
Zum Einen sind sie, jede für sich betrachtet, ein Ganzes aus
einer Summe von Teilen. Andererseits existieren sie als Fragment in
Hinblick auf ein vollständiges Gericht oder sogar Menü.
Das mag sich komplizierter denken, als es ist: Zur Suppe fehlte das
Brot, mag man meinen und die Sülze wird meist mit Essig, Öl
und Zwiebeln gedacht. Letztere mag man auch bei den marinierten Tiroler
Knödeln vermissen. Und der Mandelsulz wird nur in den wenigsten
Restaurants ohne ein Fruchtpüree oder irgendeine Soße serviert.
In sich sind diese Speisen zwar konsistent, in Hinblick auf mögliche
Bilder eines vollständigen Menüs aber, abhängig vom
jeweiligen Bildbegriff, fragmentarisch.
Was wir als Speise und als Speisefolge gelten lassen oder als mangelhaft
ansehen, resultiert aus persönlicher und kollektiver Erfahrung.
Bei aller Freude am Diskurs, dieses sei im Hinblick auf die redende
und die schmeckende Zunge mit allem Nachdruck erwähnt, bedeutet,
eine Speise für jemanden zu kochen, diesem Respekt und Liebe
entgegen zu bringen, für ihn Sorge zu tragen.
Dieter Froelich
Hannover 2003